Axel Gehrke | Fotografie

Arkadien

Frank Hahnel ist Schäfer. Seit mehr als zwanzig Jahren. Er wollte Schäfer werden, seit er als Kind in der DDR eine Fernsehserie über einen ungarischen Freiheitskämpfer in der Puszta sah. Da waren auch immer Schäfer dabei. Hahnel ist 41 Jahre alt, seine Frau Gundula 40. Man sieht, dass es harte Jahre waren. Die Hahnels haben vier Kinder. Der älteste, André, ist 20. Er stammt aus einer früheren Verbindung. Seine jetzige Frau hat er 1994 kennengelernt. Mit ihr hat er Ella-Andrea, die 13 ist, und später »Maniküre, Pathologin oder Sozialpädagogin« werden will. Sie hat gerade so eine Phase, wo sich das jeden Tag ändert. Franz-Paul ist 12 und züchtet Hasen, rote Neuseeländer. Ihr jüngster heißt Hans und ist sechs Jahre alt. Hahnels Schäferei liegt im brandenburgischen Müncheberg. Gleich an dem Feldweg, der nach Trebnitz führt. Den Weg säumen Apfelbäume, die sich im Spätsommer unter der Last ihrer Früchte krümmen. Nach einem knappen Kilometer zweigt der Weg zu Hahnels Hof ab. Rechts regen sich vierzehn Hunde in ihren Käfigen über den Besucher auf, zwölf Hütehunde und zwei Herdenschutzhunde. Links liegt das Wohnhaus, ein kleines Einfamilienhaus mit graubraunem Kieselrauputz. Rechts ein Schuppen aus Backstein und ein Hühnerstall. Dahinter der Schafstall, etwa vierzig Meter lang. Schäfer können nichts dafür, dass ihr Dasein seit mehr als zweitausend Jahren als Idyll beschrieben wird. Vergil und das Christentum tragen da eine Mitverantwortung. Gut gelaunte Schäferdichter belebten das Trugbild seit der Renaissance neu. Aber für das Leben von Frank Hahnel wäre idyllisch ein ungenaues Wort. Es sei denn, man findet alles, was irgendwie nach Land aussieht, idyllisch. Siebentausend Euro erwirtschaftet Hahnel mit seinen tausenddreihundert Merinolandschafen im Jahr. Wenn er das durch zwei Leute und zwölf Monate teile, habe er weniger als ein Hartz-IV-Empfänger. »Und der braucht morgens nicht aufzustehen.« Dabei esse jeder Deutsche im Schnitt eineinhalb Kilogramm Lammfleisch im Jahr, aber nur die Hälfte käme aus heimischer Produktion. »Stattdessen liegen in den Supermärkten diese tiefgefrorenen Frisbee-Scheiben aus Neuseeland.« Wenn man Hahnel lamentieren hört, könnte man glauben, er mag seinen Beruf nicht mehr. Aber das täuscht. Hahnel ist mit Leib und Seele Schäfer, er hasst nur die Not, in die ihn sein Beruf zwingt. »Das Schlimmste ist, dass man von seiner Hände Arbeit nicht mehr leben kann«, sagt er. »Wenn wir zur Bank gehen, fragen die nach Sicherheiten. Wenn die dann alles bewertet haben, fragen sie: Und wovon leben sie? Dann sag ich: manchmal nur vom Kindergeld.« Willkommen in der Realwirtschaft. Eine seiner Herden weidet zwei Kilometer entfernt. Sein grauer Toyota- Pick-Truck riecht innen stark nach Schaf. Er parkt ihn neben der Weide und beginnt, den Polyurethan-Zaun umzusetzen, damit die Schafe ein neues Stück Gras abfressen können. Sie schauen kurz auf, als er kommt. Dann fressen sie weiter. Sie machen eigentlich nichts anderes. Hahnel hat nie bereut, dass er sich selbständig gemacht hat, denn er wollte immer nur eins: Schäfer mit eigener Herde sein. »Schäfer wird man nicht, weil man Schäfer werden muss, sondern weil man es will. So bescheuert muss man erst einmal sein. Wenn es ein schöner Tag ist wie heute, dann ist das prima: Sich da hinstellen, zwei Hunde an der Leine, so stellen sich die Leute Schäferromantik vor.« Um sie an die Wirklichkeit zu gewöhnen, lädt Hahnel Praktikanten bevorzugt an Regentagen ein. »Entweder du wirst von oben nass oder von unten, vom Gras. Wenn du Pech hast, wirst Du auch noch von den Schafen umgerannt, weil du blöd stehst. Die kennen dich ja nicht. Wenn Du danach immer noch Schäfer werden willst, meinetwegen.« Wenn er noch einmal von vorn an- fangen könnte, würde er noch einmal Schäfer werden? Frank Hahnel sagt ohne zu zögern ja. »Auch wenn ich eine Million in der Lotterie gewinne, würde ich noch Schäfer sein. Vielleicht würde ich mir neue Technik für den Hof leisten, und ein bisschen Renovieren. Eine Kreuzfahrt würde ich jedenfalls nicht machen. Aber vielleicht mal nach Australien und Neuseeland.« Zum Schafe gucken.

Der Text ist ein Auszug aus einer Reportage von Sascha Lehnartz, erschienen am 25. Oktober 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.